Rezension von Shirin. Regie: Abbas Kiarostami, Iran 2008.

 

Im ersten seiner beiden Kinobücher Das Bewegungs-Bild schreibt Gilles Deleuze:

„Ein Affektbild ist eine Großaufnahme und eine Großaufnahme ist ein Gesicht.“ [1]

Geht man nach dieser Definition ist jedes einzelne Bild in Abbas Kiarostamis Film Shirin sicherlich ein Affektbild. Der Film besteht – über 90 Minuten – rein aus Großaufnahmen von Gesichtern, genauer von 113 Gesichtern professioneller Schauspielerinnen, während sich diese (anscheinend) in einem Kino einen Film ansehen.

Und tatsächlich sind die gezeigten Bilder höchst affizierend. Die Darstellerinnen weinen, lachen; sie naschen eine Kleinigkeit, tuscheln oder scheinen sich zu langweilen. Der Film, den sie sehen, ist nur auf der Tonebene präsent und die Tonebene ist auch nur diesem Film vorbehalten. Den innerdiegetischen Kinobesuchern gehört das Bild; dem innerdiegetischen Film gehört der Ton.

Der Film ist hierbei so überzeugend in seiner Darstellung eines abgeschlossenen Kinosaales, dass die folgende Passage aus einem Interview mit Kiarostami überraschen mag:

„In Shirin, all the actresses are imagining the film they are supposedly watching. You should know that they were sitting in front of a blank sheet of paper; they were not shown any image. Even I didn’t have any idea what film they were imagining.“ [2]

Die Entstehungsweise des Filmes lässt sich somit als Doppelung und Umkehr des klassischen Kuleshov Effektes [3] verstehen. Einerseits erhält Shirin die affizierende Wirkmacht durch eine nachträgliche Montage von Ton und Bild. Andererseits werden die Darstellerinnen selbst wieder affiziert und zwar auf – für die Zuseher*innen – gerade nicht wahrnehmbare Weise. Das Publikum reagiert also auf den Affekt eines Affektes – beide Affekte kontrolliert und abgestimmt von einem unsichtbaren Kontrolleur.

Kiarostami ist hierbei dieser unbewegte Beweger. Er instruiert seine Darstellerinnen; er entscheidet, welche Ausschnitte Teil des Filmes werden, welche nicht, und mit welchem Ton sie zu welchem Zeitpunkt kombiniert werden; er kreiert – mit Laura Mulvey – eine

„hermetically sealed world which unwinds magically, indifferent to the presence of the audience, producing for them a sense of separation and playing on their voyeuristic phantasy.“ [4]

Doch Kiarostami selbst weist in einem anderen Interview auf einen Ausweg aus seiner eigenen, strikten Kontrolle hin:

„What I am saying is that the moment an audience is affected by a movie, the creation is that special moment, not the film itself. There is no such thing as a movie before the projector is switched on and after the theatre’s lights are turned off.“[5]

Die bedingungslose Kontrolle des*der Regisseur*in endet aber mit der Projektion des Filmes. Ab dem Zeitpunkt, ab dem der Film in Interaktion mit den Zuseher*innen tritt, ab dem er ihren prüfenden Blicken ausgesetzt wird, beginnt der Film nur noch Teil eines größeren Dispositives zu sein.

Ein Dispositiv, auf das die affizierenden Bilder des Filmes selbst aber gerade verweisen. Wenn ein*e Kinozuseher*in sich 90 Minuten lang Bilder von Kinozuseherinnen ansieht, dann wird sie*er nicht umhin kommen, die Gesehenen mit sich selbst in Verbindung zu setzten. Mehr noch: was hindert ihn*sie daran sich selbst umzublicken, nicht mehr die Darsteller*innen bei der Betrachtung eines imaginären Filmes, sondern seine*ihre Mitseher*innen bei der Betrachtung des tatsächlichen Filmes zu beobachten?

Hierin wird dann eben genau der voyeuristische Aspekt, der von Mulvey angesprochen wird, ausgehebelt: Die eingebildete Unsichtbarkeit der realen Zuseher*innen wird durch die offensichtliche Sichtbarkeit der diegetischen Zuseherinnen verunmöglicht. Das Kino reflektiert sich selbst, die Feedback Schleife wird überladen und der Voyeur wird Voyée.

 

Endnoten

[1] Deleuze: „Das bewegungs-Bild“, S. 123.

[2] Khoshbakht: „Abbas Kiarostami, Up Close“, Frage 14.

[3] Vgl. Bordwell / Thompson: Film Art, S. 227f.

[4] Mulvey: „Visual Pleasure and Narrative Cinema“, S. 9.

[5] Khodai: „Shirin as Described by Kiarostami“, Frage 1.

 

Quellenverzeichnis

Shirin. Iran 2008. Regie: Abbas Kiarostami. DVD Video, London: BFI 2009.

Bordwell, David / Thompson, Kristin: Film Art. An Introduction. Tenth Edition. New York McGraw-Hill 2013.

Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild: Kino 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003.

Khodaei, Khatereh: „Shirin as Described by Kiarostami“ In: Offscreen. Volume 13, Issue 1. January 2009. Via: http://offscreen.com/view/shirin_kiarostami; Zugriff: 11.01.2015.

Khoshbakht, Ehsan: „Abbas Kiarostami, Up Close“ In: Keyframe. 08. Februar 2013. Via: http://www.fandor.com/keyframe/abbas-kiarostami-up-close; Zugriff: 11.01.2015.

Mulvey, Laura: „Visual Pleasure and Narrative Cinema“. In: Screen. Volume 16 Issue 3. Herbst 1975, S. 6-18. Via: screen.oxfordjournals.org/content/16/3/6, Zugriff: 11.01.2015.

 

Das Titelbild ist ein Screenshot aus Shirin. Iran 2008. © BFI 2009.