Für eine Ästhetik des Bruches

 

Als mediale Form steht der Comic zwischen den Formen des Filmes und der Fotografie, wie auch Georg Seesslen erklärt:

„Dass die Erzählweise von Comic und Film einander verwandt sind ist immer wieder betont worden. In beiden Fällen handelt es sich um Bewegungsbilder […] Zugleich ist der Comic dem Fotografischen verwandt und damit dem Filmischen geradezu entgegengesetzt. Das Panel eines Comics verhält sich wie der ‚eingefrorene Augenblick‘ einer Fotografie und wie die Bewegungsästhetik des Filmischen.“[1]

Hierbei ist essentiell, dass eben beides – Comic wie Film – von Seesslen als Bewegungsbilder bezeichnet werden. Die Bewegung ist etwas was laut Gilles Deleuze nicht an einzelnen Momenten festzumachen ist, sondern zwischen diesen einzelnen Momenten passiert, im Intervall.[2] Bewegungsbilder sind also Bilder, die über die einzelnen Momente, aus denen sie bestehen, eine Einheit schaffen. Sie existieren nicht mehr nur als einzelne abgeschlossene Momente, sondern in einem Fluss, der aber erst im Verständnis der Rezipient*innen erzeugt wird. Allein dieses aktive In-Verbindung-Setzten der Einzelbilder durch das Publikum bedingt dann eigentlich auch die Bewegung. Diesen Akt der psychischen Vervollständigung bezeichnet Scott McCloud als closure:

„Comics panels fracture both time and space, offering a jagged staccato rhythm of unconnected moments. But closure allows us to connect these moments and mentally construct a continuous, unified reality […] in a very real sense comic is closure.“[3]

In Filmen geschehe diese closure – laut McCloud – automatisch durch die unabdingbare Abfolge der Einzelbilder im mechanischen Apparat. Will Eisner meint aber nun, dass gerade diese unabdingbare Abfolge von Einzelbildern dem Film eine größere Kontrolle über das Seherlebnis des Publikums erlaube:

„The viewer of a film is prevented from seeing the next frame before the creator permits it because these frames, printed on strips of transparent film, are shown one at a time. So film, which is an extension of comic strips, enjoys absolute control of its ‘reading’ […]“[4]

Eisner sieht hierin ein „obstacle“, dass der*die Künstler*in im Comic überwinden müsse um die Aufmerksamkeit der*des Leser*in nicht zu verlieren:

„In sequential art the artist must, from the outset, secure control of the reader’s attention and dictate the sequence in which the reader will follow the narrative.“ [5]

Es stellt sich jedoch die Frage warum dies die einzige Möglichkeit zum Umgang mit diesem Komplex der closure sein müsse. Liegt nicht vielmehr gerade in der Offenheit und der Notwendigkeit nach aktiver Partizipation der Rezipient*innen ein Potential auf kritischen Umgang mit den rezipierten Medien verborgen?

Denn wie auch McCloud beschreibt liegt es ja zutiefst in den Medien Film und Comic angelegt, dass diese den Blick, die Zeit und den Ort zerstückeln. Die Unterbrechung avanciert in beiden Medien also zu einem Kernelement der Wahrnehmung. Erst die closure – also ein Element, das ja außerhalb der eigentlichen Wahrnehmung liegt – überbrückt dann diese Unterbrechung. Und in dieser Unterbrechung vollzieht sich, wie schon Walter Benjamin ausführte, die eigentliche Erkenntnis der Realität, nämlich die Erkenntnis der Zustände unter denen sie zustande kommt.[6]

Denn: Die Realität von Film und Comic sind eben nicht irgendwelche vormedialen Realitäten. Vielmehr ist ihre Realität das Material dieser Medien selbst, ihre immanente Materialität. So kann auch nur ein Comic oder ein Film, der mit dieser Materialität spielt, sie thematisiert und zur Schau stellt, schlussendlich diesen Medien gerecht werden, kann nur solch eine Form die innere Politik des Mediums ausdrücken.[7]

Es wurde hier schon ein zentrales Merkmal dieser ‚inneren Politik‘ genannt, und zwar die Unterbrechung. Die Unterbrechung avanciert in den Bewegungsbildern zu einem Kernelement der Wahrnehmung. Doch wenn ihre Wahrnehmung immer eine gebrochene ist – eine Aisthesis des Bruches – so muss auch ihre theoretische Beschreibung – und deren programmatische Umsetzung – auf diesem Element des Bruches fußen. Was also nötig wäre, ist eine Ästhetik des Bruches.

Solch eine Ästhetik darf sich aber nicht damit begnügen, den Bruch nur als kontingentes Anhängsel des Wahrgenommenen – als stumpfen Sinn oder filmischen Exzess – zu verorten. Sie muss den Bruch als ordnendes Element der Wahrnehmung selbst bestimmen, muss zeigen wie Wahrnehmung innerhalb einer Unterbrechung, einer Pause, einer Irritation neu entstehen, sich neu orientieren oder neu bewertet werden kann.

Wenn Alexander Kluge und Joseph Vogl davon sprechen, dass Kritik sehr elementar mit dem Moment des Zögerns zusammenhängt, mit der „Unterbrechung des Automatismus“,[8] dann scheint es nicht abwegig auch eine Ästhetik, welche sich kritisch mit dem Gegenstand ihrer Wahrnehmung auseinandersetzt, die sich aktiv in der Wahrnehmung selbst verhält, eben auch auf dieses anhaltende Moment, auf den Bruch, rekurrieren zu lassen.

Noch ist solch eine Ästhetik des Bruches nicht gefunden. Was natürlich nicht unbedingt heißt, dass es keine Beispiele gäbe, die nicht bereits nach ihrer Programmatik funktionierten. Doch ist fraglich ob in den einengenden Apparaten des klassischen Filmes und Comics, sowie ihren festgefahrenen Institutionen, tatsächlich solch eine Revolution möglich wäre, wie es eine radikale Ästhetik des Bruches verlangte. Vielleicht ist es erst die Einbettung in eine andere Umgebung, in ein anderes Medium, mit neuen Akteur*innen, mit neuen Regeln und neuen Dynamiken, welche diese Umwälzung ermöglichen.

Und deshalb wieder mit Benjamin: „Dies alles, um Sie mit dem Gedanken vertraut zu machen, daß wir in einem gewaltigen Umschmelzungsprozeß […] mitten innestehen, einem Umschmelzungsprozeß, in dem viele Gegensätze in denen wir zu denken gewohnt waren, ihre Schlagkraft verlieren könnten.“[9]

 

Endnoten

[1] Seesslen: „Bilder für die Massen“, S. 257.

[2] Vgl. Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, S. 13.

[3] McCloud: Understanding Comics, S. 67.

[4] Eisner, Will: Comics and Sequential Art, S. 41.

[5] Eisner, Will: Comics and Sequential Art, S. 40.

[6] „Die Unterbrechung der Handlung […] wirkt ständig einer Illusion im Publikum entgegen. Solche Illusion nämlich ist […] unbrauchbar, […] die Elemente des Wirklichen im Sinne einer Versuchsanordnung zu behandeln. Am Ende, nicht am Anfang, dieses Versuches stehen aber die Zustände. […] Die Entdeckung der Zustände vollzieht sich mittels der Unterbrechung der Handlung.“ Aus: Benjamin: „Der Autor als Produzent“, S. 698.

[7] „Die photographischen Aufnahmen beginnen […] Beweisstücke im historischen Prozeß zu werden. Das macht ihre verborgene politische Bedeutung aus.“ Aus: Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 26.

[8] „Das scheint mir aber ein ganz elementarer Akt der Kritik zu sein: die Sondierung von Stellen, an denen Urteilsketten, Handlungsketten unterbrochen werden können.“ Aus: Kluge / Vogl: „Kritik aus nächster Nähe“, S.9f.

[9] Benjamin: „Der Autor als Produzent“, S. 687.

 

Quellenverzeichnis

Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Stuttgart: Reclam 2011.

Benjamin, Walter: „Der Autor als Produzent“. In: Benjamin, Walter / Tiedemann, Rolf (Hg.) / Schleppenhäuse, Werner (Hg.): Gesammelte Schriften 2. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S.683-701.

Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003.

Eisner, Will: Comics and Sequential Art. Principles and Practices from the Legendary Cartoonist. New York: W.W. Norton 2008.

Kluge, Alexander / Vogl, Joseph: „Kritik aus nächster Nähe“. In: Kluge, Alexander / Vogl, Joseph: Soll und Haben. Fernsehgespräche. Zürich / Berlin: diaphenes 2009, S. 7-21.

McCloud, Scott: Understanding Comics. The Invisible Art. New York: HarperCollins 1994.

Seesslen, Georg: „Bilder für die Massen. Die prekäre Beziehung von Comic und Film und die dunkle Romantik des Neoliberalismus im neueren Comic Kino.“ In: Eder, Barbara (Hg.in) / Klar, Elisabeth (Hg.in) / Reichert Ramón (Hg.): Theorien des Comics. Ein Reader. Bielefeld: transcript 2011, S. 253-262.

 

Das Titelbild ist eine Illustration aus Understanding Comics. HarperCollins 1994, S. 67. © Scott McCloud.